Zwischen Ruhrgebiet und Niederrhein, 1900 - 1920
Ungestüm begann nach der Jahrhundertwende das Kohle- und Stahl-Zeitalter für Dinslaken. Es kamen Menschen hierher, deren Anschauungen, Werte und Überzeugungen die der Einheimischen verstörten. In dieser Zeit des Umbruchs brachte der Erste Weltkrieg erneut einen erheblichen Wandel. Zwar fand der Krieg nicht auf deutschem Boden statt, aber die physischen und psychischen Schäden in Deutschland waren dennoch immens und unübersehbar. Dazu kam noch die Schmach des Versailler Friedensvertrages mit der alleinigen Schuldzuweisung an Deutschland. Die Forderung der Alliierten, den ehemaligen deutschen Kaiser Wilhelm II. auszuliefern, berührte vor allem konservative Dinslakener Bürger. Hatte sich ihre Stadt doch unlängst mit einem Kaiserdenkmal vor der St. Vincentius Kirche geschmückt.
Die bürgerlich geprägte Kleinstadt Dinslaken wuchs mit Walzwerk und Zeche und der Zuwanderung von Menschen aus dem Osten zu einer Industriestadt. Aus der ehemals bäuerlichen Siedlung Lohberg, wo ein Bergwerk Kohle förderte, wurde ein Arbeiterquartier ähnlich wie in Hamborn oder Marxloh. Anders als den konservativen Bürgern stand der Sinn der Bergleute nicht nach Schützenfesten oder Kaiser-Nostalgie, sondern sie forderten bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für sich und Ihre Familien.
Die schnell wachsende Stadt mit ihren Ortsteilen musste an die Erfordernisse der Infrastruktur angepasst werden. Für die Stadtplanung leistete damals der verantwortliche Baumeister Nottebaum Grundsätzliches. Mit seinem Motto „Dinslaken - Stadt im Grünen“ wollte er einerseits den Charakter der Stadt erhalten und andererseits ein lebenswertes Umfeld für alle schaffen. Er hatte die Weitsicht, steigendes Verkehrsaufkommen sowie den Bedarf nach Industrieflächen vorausschauend zu planen. Dabei handelte er in engem Kontakt mit dem Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk.
Zur Ruhe kamen die Menschen im Ruhrgebiet, am Niederrhein und im Deutschen Reich auch nach dem Kriegsende 1918 nicht. Große Probleme in Staat und Gesellschaft türmten sich auf und die Folgen des Ersten Weltkriegs waren längst nicht überwunden
# Die Kohle- und Stahlstadt Dinslaken – zwei große Werke, zwei politisch unterschiedliche Belegschaften
1918 hatte Dinslaken zwei große Arbeitgeber: Seit 1898 das Walzwerk nahe am Stadtzentrum und seit 1905 die Zeche in Lohberg. Gemeinsam war den Unternehmen, dass sie August Thyssen gehörten. Die politische Stimmung im Jahr 1920 unterschied sich an beiden Standorten.
Das Walzwerk war Teil der Gewerkschaft Deutscher Kaiser. Julius Kalle und Aloys Fassel waren innovative Werksleiter. Der Ausbau des Betriebs verlief zügig und die Produktion war zufriedenstellend. Die Arbeiter des Walzwerks waren nach 1918 überwiegend in der MSPD (Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands) organisiert.
1905 erfolgte die Gründung der Gewerkschaft Lohberg und seit dem 1. Februar 1909 förderte das Bergwerk Kohle. Von 1912 bis zum 22.3.1920 war Heinrich Sebold Direktor der Zeche. Die Bergarbeiter waren eher Anhänger der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands). Die Zechenkolonie Lohberg war seit der Novemberrevolution 1918 eine Hochburg der Linken.
[Für weitere Informationen siehe Michael Dahlmanns. Der Aufstand. Dinslaken 1988, und Inge Litschke. Im Schatten der Fördertürme. Duisburg 1993]
# Lohberg: Arbeiteralltag und Kommunismus
Die Zeche stand auf einem ergiebigen Kohlenfeld, wuchs durch neue Anlagen und bekam eine hohe Bedeutung für die Versorgung. Eine Karte der Zechen im Westen des Ruhrgebiets aus dem Jahr 1948 verdeutlicht die Insellage Lohbergs. Siedlung und Zeche lagen abseits vom Kern der Altstadt und im ländlichen Umfeld an der Straße von Dinslaken nach Hünxe. Für die Bergarbeiter bedeutete die neu errichtete Gartenstadt Wohn- und Lebensraum entfernt von Dinslaken.
Politisch entwickelte Lohberg ein ausgeprägtes Eigenleben. Die Siedlung bekam nach der Novemberrevolution von 1918 einen überregionalen Ruf. Denn Lohberg wurde eine Hochburg der KPD. Deren Vorherrschaft wurde in der Reichstagswahl vom Juni 1920 eindrucksvoll dokumentiert.
Ein Zeitzeuge sagte: „Im Volksmund hieß es hier in Voerde ‚Mein Gott, das rote Lohberg', trotzdem da auch ehrliche Menschen wohnten und ihr Brot verdienten, aber es waren eben die Roten.“ (Dahlmanns / 1988, S. 34/35)
Andere sagten: „Lohberg war schon ein Pflaster für sich. ... Bei so vielen Kommunisten, wie in Lohberg waren, mussten auch die Katholiken Kommunisten sein. Die gingen am Fronleichnamstag mit der Prozession und sonst sagten sie ‚Heil Moskau‘. So was Rotes wie Lohberg kann man sich gar nicht vorstellen ...“ „In der Volksschule konnte es kein Lehrer wagen, uns gemischt in die Klasse zu setzen.“
Der evangelische Pfarrer Schmidt wählte in seinen Erinnerungen den Begriff „Roter Spuk“. Doch ob Spuk oder Realität, der Alltag blieb bis 1933 durch politischen Auseinandersetzungen geprägt. Einige Lohberger folgten dem KPD-Versprechen, Russland sei für Arbeiter ein Paradies. Ebenso viele kehrten enttäuscht zurück.
Beide Karten zeigen die Lage der Zeche Lohberg zur Stadt Dinslaken sowie zu den anderen Zechen im westlichen Ruhrgebiet.
Eine große, nicht nur räumliche Distanz liegt zwischen den kaisertreuen Stadtbürgern und den Lohberger Arbeitern.
Quellen:
Michael Dahlmanns, Der Aufstand. Dinslaken 1988
Litschke, Inge: „Im Schatten der Fördertürme: Kindheit und Jugend im Revier; die Bergarbeiterkolonie Lohberg 1900 -1980 (1993). Duisburg 1993 (ISBN 3-87463-186-9)
Bock, Hans Manfred, „Die "Rote Armee" der Ruhr-Arbeiterschaft im Anschluss an den Kapp-Putsch März/April 1920“ (1969);
http://www.trend.infopartisan.net/trd0200/t200200.html
Quelle Zechenkarte: Stadtarchiv / Karten S70/Nr. 122: NRW-Atlas - Ministerpräsident des Landes NRW, Landesplanungsbehörde 1949-1954; Blatt zu Zechen (Stand 1948)
Inhalte
Januar 1920
#In Hamborn herrscht der Mob - Streik in Dinslaken - Lebensmittelrationierungen
#Die neue Welt der Frau zu Beginn der 1920er Jahre
#Mann und Frau - Bei Wahlen sind jetzt alle gleich- und wahlberechtigt
#Frauen im Stadtparlament von Dinslaken seit 1919
#Die Frauenwelt von 1920 im Spiegel der Hamborner Volkszeitung
Februar 1920
#Gründung des "Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk"
#Nachrichten aus dem Kreisgebiet Dinslaken
März 1920
5.–13. März 1920
#Besserung der Kohlebeförderung - Metalldiebstähle - Streiks in Dortmund
14./15. März 1920
#Generalstreik
16.-18. März 1920
#Die Reichswehr schützt die Verfassung - Forderungen der Arbeiter
19. März 1920
#Ruhrgebiet / Die Reichswehr zieht sich aus dem Ruhrgebiet zurück - Alle Versammlungen verboten. Das Militär schießt rücksichtslos
20.–22. März 1920
#Stellungskrieg südlich von Dinslaken
#Berichte zu den Ereignissen aus Schulchroniken
1. Evangelische Schule Dinslaken-Oberlohberg, Eintrag vom 5. April 1920
2. Bergschule Dinslaken, Einträge vom 20. März bis zum 22. März 1920
3. Schule in Stockum, Voerde (nachträglicher Eintrag)
#Der Lohberger Bergwerksdirektor Heinrich Sebold
Vom 23. März bis zum Ende des Bürgerkriegs
#Der Frieden von Bielefeld
#Dinslaken im Bürgerkrieg - Brutale Kämpfe und Tote zwischen Emscher und Lippe
#Kampfzone Lippe und Wesel
#Wer hat die Reichswehr gerufen?
#Schützengräben in Voerde - Zusammenbrechende rote Front?
#Die Ereignisse in Hünxe im Spiegel des Tagebuchs von Max Wetzlar, Bürgermeister von Hünxe
#1./2. April - Befehl an die Reichswehr: Dinslaken ist bis 12 Uhr einzunehmen
#Die Reichswehr im Dinslakener Stadtbereich
Anfang April 1920 – Blick zurück im Zorn
#„ …. So also sieht das Ende vom Erdenparadies aus, das jene Apostel der Anarchie bringen wollen!“ (Ruhrorter Volks-zeitung, 7.4.1920)
#Resümee. Berichte in der Lokalpresse prangern die kommunistische Herrschaft an und begrüßen die Befreiung
#Ein Dinslakener Zeitzeuge berichtetet 50 Jahre später in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung
Epilog
Januar 1920
#In Hamborn herrscht der Mob - Streik in Dinslaken - Lebensmittelrationierungen
#Die neue Welt der Frau zu Beginn der 1920er Jahre
In der Weimarer Republik veränderten sich die überlieferten Geschlechterrollen allmählich: Die rechtliche Gleichstellung war grundsätzlich gegeben, Individualität und Freiheit wuchsen. Hatten die drei großen „K“ - Kinder Küche Kirche- noch die Aufgabe der Frauen in der Kaiserzeit geprägt, so durfte die „neue Frau“ nun ihr Interesse an Konsum, Kino und Kultur ausleben. Das neue Verständnis der Frauen zeigte sich in Mode und Frisur: Haare und die Saumlänge der Kleider wurden kürzer. Politisches Interesse und Engagement entwickelten sich allmählich, das Frauenwahlrecht und die Arbeit der Frauenbewegungen zeigten zwar noch erst verhalten, aber dennoch Wirkung. Allerdings blieb die nichtberufstätige Ehefrau das gesellschaftliche Ideal.
„Das Illustrierte Blatt“ rief in der Januarausgabe 1919 Frauen dazu auf, ihr Wahlrecht wahrzunehmen.
#Mann und Frau - bei Wahlen sind jetzt alle gleich- und wahlberechtigt
Mit der Abwahl des 3 Klassen-Wahlrechts ab November 1918 und der Gleichberechtigung von Mann und Frau vor dem (Wahl-) Gesetz kam es zu deutlichen Änderungen: Die Wahlbeteiligung zu Reichstagswahlen im Frühjahr 1919 brachte 9% Frauen in den Reichstag.
#Frauen im Stadtparlament von Dinslaken seit 1919
In Dinslaken brachten die Kommunalwahlen vom März 1919 mit 30 Stadtverordneten auch eine Frau in das Parlament: Emilie Krause aus Lohberg, parteilos. Zur Wahl waren mehrere Listen aufgestellt und viele Stadtverordnete stellten sich wieder zur Wahl. Mit der Eingemeindung von Hiesfeld 1917 wurden die Wahlbezirke für ganz Dinslaken geändert.
Die Ansiedlung der Zeche Lohberg und der Bau der neuen Gartenstadt ändert die Zusammensetzung der Bürger und ihre politische Ausrichtung im Stadtgebiet. In Lohberg war die KPD stark vertreten und politisch aktiv. Der Ausbau der Kohleförderung (u.a. ein neuer Förderturm in 1920) führte zur Prosperität der Stadt, aber mit den Arbeitern auch zu neuen politischen Verhältnissen.
Die Arbeitervertreter wurden im Stadtparlament präsent. Die Lohberger Liste VIII mit der KPD zeigt sieben Kandidaten, darunter auch die parteilose Frau Krause. Die Liste VIII zieht im März 1919 mit sieben Verordneten in das Dinslakener Parlament ein.
Vergleich Kommunalwahlen 1913 und 1919
Vergleicht man die Dinslakener Wahlunterlagen von 1913 im Kaiserreich mit denen der jungen Demokratie von 1919, dann zeigt sich die Abschaffung des 3-Klassenwahlrechts deutlich. Allein die Zahl der Wahlberechtigten hat sich auf 6069 gültige Stimmen erhöht.
Literatur-Tipp
https://geschichtsbuch.hamburg.de/epochen/weimarer-republik/frauen-in-der-weimarer-republik/
Die Frauenwelt von 1920 im Spiegel der Hamborner Volkszeitung
Februar 1920
#Gründung des "Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk"

Um die Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag erfüllen zu können, wurde als Zusammenschluss der Gemeinden und Kreise des Ruhrgebiets der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) geplant. Außerdem erforderte die starke Entwicklung des Ruhrgebiets zunehmend eine gemeinsame Regelung übergeordneter Fragen wie die Vermeidung einer Zersiedelung des Ruhrgebiets oder die Definition von Grünzügen, aber auch die Verkehrswege-Planung waren zu organisieren. Dies musste per Gesetz im Einvernehmen mit dem Reich, dem Staat Preußen und den örtlichen Verwaltungsbehörden geregelt werden.
1920 wurde der erste Gesetzentwurf vorgestellt. Demnach sollten 150.000 Bergleute und etwa 600.000 weitere Menschen im Ruhrgebiet zusätzlich angesiedelt werden, um den Ruhrbergbau zu unterstützen.
Die langjährige Mitarbeit des Dinslakener Stadtbaurats Nottebaum im Technischen Beirat des Verbandes brachte Dinslaken viele Vorteile, so die Unterstützung bei der Planung und Realisierung der Verbandsstraße (heutige Bundesstraße 8).
#Nachrichten aus dem Kreisgebiet Dinslaken
März 1920
5.-13. März 1920
#Besserung der Kohlebeförderung - Metalldiebstähle - Streiks in Dortmund
14./15. März 1920
#Generalstreik
16.-18. März 1920
#Die Reichswehr schützt die Verfassung - Forderungen der Arbeiter
19. März 1920
#Ruhrgebiet/ Die Reichswehr zieht sich aus dem Ruhrgebiet zurück - Alle Versammlungen verboten. Das Militär schießt rücksichtslos.
Eine neue Phase der Auseinandersetzung im Ruhrgebiet wird eingeläutet: Die bewaffneten Arbeiter vertreiben die Reichswehr. Sie sind zu dem Zeitpunkt für die Reichswehr strategisch eine Gefahr, sie können Reichswehrverbände umzingeln und abtrennen.
20.-22. März 1920
#Stellungskrieg südlich von Dinslaken
Am 20. März wurde der Generalstreik auf Reichsebene beendet, am gleichen Tag zog der Kommandant von Wesel, General Kabisch, alle Freikorps und Truppenteile aus Düsseldorf, Duisburg und Mülheim nach Dinslaken zurück. Bei diesem Rückzug verloren die Regierungstruppen Menschen, Waffen und Fahrzeuge. General von Watter erließ deshalb wenig später (am 22. März) einen Geheimbefehl, dass die Revolution brutal zerschlagen werden soll: Kriegsrecht, standrechtliche Erschießungen statt Haft, Schießbefehl auf unbewaffnete Menschenansammlungen.
Die Rote Ruhrarmee wollte zunächst nach Münster, zum Standort des Wehrbezirkskommandos. Doch angesichts der Entwicklung im Raum Hamborn und Dinslaken, entschließen sie sich, Richtung Wesel zu ziehen und besetzen am 21./22. März Dinslaken. Als Hauptquartier in Dinslaken beziehen sie das Realgymnasium (heute Theodor-Heuss-Gymnasium).
In Lohberg kommt es auf einer verbotenen Versammlung zu Toten und weiteren bewaffneten Auseinandersetzungen mit der örtlichen Reichswehr-Einheit. Im Ergebnis wurden die ersten zivilen Toten gezählt. Paul, 12 Jahre alt, Schüler, Sohn eines Bergarbeiters, ist einer der ersten und jüngsten Toten: gestorben durch Kopfschuss am 21. März 1920.

Abb.: Truppen der Roten Armee in der Innenstadt Dinslakens (Quelle: Stadtarchiv Dinslaken)
Die Rote Ruhrarmee greift die Reichswehr von Dinslaken, Lohberg, Hünxe und Voerde aus an. Im Straßenkampf in den Ruhrgebietsstädten waren die Arbeiter im Vorteil, doch in der wenig bebauten Region kann nun die Reichswehr ihre Artillerie erfolgreich einsetzen. Dementsprechend fährt die Reichswehr schwere Artillerie gegen die Arbeiter-Truppen auf, Langrohrwaffen, mit denen sie das zivile Gebiet von Voerde über Dinslaken bis nach Lohberg beschießt. Die Arbeitertruppen sind lediglich mit Gewehren ausgestattet, sie kämpfen mit Mörsern und leichter Artillerie, die sie auf dem Feld oder in den Depots von Reichswehr, Einwohnerwehr oder Sicherheitspolizei in Besitz genommen hatte. Es kommt zu Dauergefechten, die über zwei Tage anhalten. Ein Stellungskrieg entwickelt sich, geprägt von Schützengräben und Schützenlöchern.
Während dieser Kämpfe werden insgesamt 62 Menschen getötet, die größte Zahl davon Arbeiter. Trotz dieser großen Verluste an Menschenleben kann die Rote Ruhrarmee am 22. März den Ortsteil Oberlohberg einnehmen.
Darstellung der Ereignisse nach Gerhard Colm S. 260 ff. Siehe dazu auch: M. Dahlmanns /1988, Kapitel III-3, S. 38 - 45 und J. Kersken, SP 68-412. (J. Kersken hat die Arbeit 1977 als Schüler am Theodor-Heuss-Gymnasium Dinslaken verfasst.)
#Berichte zu den Ereignissen aus Schulchroniken
1. Evangelische Schule Dinslaken-Oberlohberg, Eintrag vom 5. April 1920
„Endlich sind die Schreckenstage des Bürgerkrieges vorbei“./Am 20. März, Samstags um 9 Uhr, verkündete der Kanonendonner /von Dinslaken und Hamborn her das Herannahen der Roten /Armee. Die Schule wurde geschlossen und den Kindern an-/empfohlen, sich in den Häusern auf-zuhalten. Samstags/ und Sonntags war die Schlacht um Dinslaken. Kanonengebrüll, /das Tack-Tack der Maschinengewehre, Schützenfeuer, Minenwerfer /etc,etc. wird den Bewohnern von Oberloh-berg unvergeßlich bleiben. /Granaten platzten in unmittelbarer Nähe der Schule in der Krum-/-beck. Die Dickerstraße war Aufmarschgebiet für die Rotgardisten, …“
2. Bergschule Dinslaken, Einträge vom 20. März bis zum 22. März 1920
Karfreitag 1920 [2. April 1920] ist es, 9 Uhr morgens.
Befreit von einem furchtbaren erstickenden Drucke, /atmet die Bevölkerung von Oberlohberg, nach die/sen Schreckenstagen, nach dieser kommuni/stischen Gewaltherrschaft wieder auf. …
Samstagabend.
Schon ist der Rand des Galgenberges be/setzt. ... 50-70 Lohberger Kumpels/ beginnen den Kampf mit nur einigen/ Gewehren gegen die Regierungstruppen. /Diese liegen am Bahndamm der Thys-senschen /Zechenbahn.
Sonntag, den 21.03.
Das Leben vor der Schule, in dem gegen-/überliegenden Wäldchen wird immer/ vager. Das Sau-sen der Gewehrkugeln/macht einen Aufenthalt außerhalb des /Schulgebäudes unmöglich. Der Un-terricht/ ist seit Samstag ausgesetzt. Es sollte noch /schlimmer kommen. …
3. Schule in Stockum, Voerde (nachträglicher Eintrag)
...... In der Nacht zum 21. März pochen zwei verirrte Männer der Reichswehr/an die Tür unseres Schulhauses. Roß und Reiter sehen abgehetzt aus, sie/haben schlimme Tage hinter sich. Am Nachmittage desselben Tages, einem/Sonntage, hören wir lebhafte Kanonendonner von Dinslaken herüber-/schallen. …
#Der Lohberger Bergwerksdirektor Heinrich Sebold
Abb.: Heinrich Sebold mit Frau und Schwiegertochter, die Traueranzeige der Familie des ermordeten Zechendirektors Sebold sowie ein Nachruf der Bergwerksgesellschaft
(Quelle: Stadtarchiv Dinslaken, S 120-1.6)
Der Direktor des Bergwerks Lohberg zählte ebenfalls zu den Opfern während des Bürgerkriegs. Seine grausame Ermordung wühlte die Bevölkerung sehr auf und erregte weit über Dinslaken hinaus Aufsehen.
Heinrich Sebold, am 27. August 1868 bei Hattingen geboren, trat 1905 als Betriebsführer in die Dienste der Gewerkschaft Deutscher Kaiser. Er hatte sich vom Bergmann hochgearbeitet und wurde 1909 zum Betriebsdirektor, also zum Zechenleiter, ernannt. Nach der Darstellung von Spethmann (Die Rote Armee an Ruhr und Rhein, 1930) wird er am 22. März von „Roten“ aus seiner Wohnung geholt und in ihre Kampfstellung gebracht. Mit den Worten „Du bist im Leben ein Schwein gewesen, du sollst auch als Schwein sterben“ sperren sie ihn einige Stunden in einen Schweinestall. Im Gehölz hinter der Schachtanlage wird er niedergeschlagen und ihm eine Handgranate um den Hals gehängt. Seine Leiche findet man mit einem Bajonett im Rücken, so heißt es bei Spethmann. Bei Glettenberg (SP 68-409, S. 13) heißt es weiter: „Darauf gingen die Viecher in der Wohnung der Frau Sebold und ließen sich auftischen. Als Frau Sebold in ihrer Angst nach ihrem Mann fragte, beruhigte man sie zunächst, und als die Kerle betrunken waren, sagten sie ihr, daß ihr Mann draußen im Gehölz läge. Dort fand Frau Sebold dann auch die gräßlich zugerichtete Leiche.“
Artur Zickler schreibt 1920 in „Reichswehr gegen Rote Armee. Was im Ruhrgebiet geschah“: „Die unmenschliche Abschlachtung des Direktors Sebold enthüllt Abgründe der menschlichen Seele, in die man nicht hinabschauen kann, ohne bis ins innerste Mark zu frieren.“ (zitiert nach: Reininghaus, Der Arbeiteraufstand im Ruhrgebiet 1920, S. 217). Ein Jahr später, März 1921, kam es zu einem Gerichtsprozess, zwei Bergmänner wurden zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Berichterstattung zu dem Prozess (leider fehlt der erste Gerichtstag in den Unterlagen von Wilhelm Mölleken) kann über diesen Link verfolgt werden, die Zeugenaussage von Dr. Saelmans finden Sie hier.
Vom 23. März bis zum Ende des Bürgerkriegs
#Frieden von Bielefeld
Am 23. März lud Reichskommissar Severing Arbeitervertreter, Vertreter der Vollzugsausschüsse, Regierungspräsidenten, Gewerkschaften und politische Parteien zu einer Konferenz nach Bielefeld ein, es wird ein Waffenstillstand geschlossen. Damit ist das Gebiet südlich der Lippe eigentlich bis zum Ende des Ultimatums tabu. Doch General von Watters hatte seinen „Operationsbefehl Nr. 1“ bereits am 22. März 1920 ausgearbeitet und die ersten Einmarschziele für den 24. März angegeben. Das Datum muss auf Verlangen der Regierung mehrfach geändert werden. Doch die Sprecher der Reichswehr erklären immer wieder, dass sie sich an Abmachungen mit „Aufrührern“ (wie die in Bielefeld getroffenen) nicht gebunden fühlen. Hinzu kommt der Befehl aus der Bendlerstraße, an den Standorten zu verbleiben. Doch das Militär hält sich an die Befehle der Regierung lediglich im zentralen Industriegebiet, interpretiert das Gebiet nördlich der Lippe jedoch als Aufmarschgebiet. Die Truppen General Watters marschieren weiter vor. Der Frieden von Bielefeld, ein Waffenstillstand, der weitere Verhandlungen ermöglichen sollte, wird nicht eingehalten.
Die Vereinbarung umfasst 17 Punkte. Hier folgt ein Auszug:
11. Die sämtlichen Beteiligten verpflichten sich, ihren ganzen Einfluß dahin auszuüben, daß die Arbeiterschaft so schnell wie möglich, zur gewohnten Arbeit zurückkehrt. Die Arbeitgeber sind gehalten, die zurückkehrenden Arbeiter wieder einzustellen.
12. Es erfolgt sofortige Abgabe der Waffen und Munition sowie die Rückgabe des requirierten und erbeuteten Heeresgerätes an die Gemeindebehörde.
13. Alle Gefangenen sind sofort, spätestens bis 27. März mittags 12 Uhr zu entlassen.
14. Bei loyaler Einhaltung dieser Vereinbarungen wird ein Einmarsch der Reichswehr in das rheinisch-westfälische Industriegebiet nicht erfolgen.
Von Watter sollte nur auf schriftliche Anweisung des gesamten Reichsministeriums handeln können!
Weitere Details unter Handlungsfeld C
Quelle: Eliasberg /1974, S. 232.
#Dinslaken im Bürgerkrieg - Brutale Kämpfe und Tote zwischen Emscher und Lippe
In Dinslaken werden Landrat Moll und Bürgermeister Max Saelmans ihres Amtes enthoben, es wird ein Vollzugsrat gebildet, der aus Bergmännern und Arbeitern besteht und die Kommunalpolitik bestimmt.
Der Roten Ruhrarmee, immer noch südlich der Lippe gelegen, mangelt es zunehmend an Munition und Versorgung. Bei den Kämpfen gibt es nicht nur bewaffnete Tote, sondern es werden auch Zivilisten getötet, Männer, Frauen und sogar Kinder. Nach der Ermordung des 12jährigen Paul kommt es zum Kampf um Lohberg zwischen Reichswehr im Ort und der Roten Ruhrarmee, die von Oberlohberg eindringt. Die Artillerie der Reichswehr hat wesentlichen Einfluss auf den Erfolg der Reichswehr, der auch höher ist als für die Rote Ruhrarmee. Erst durch einen kurzfristigen Abzugsbefehl aus Münster in der Nacht auf den 23. März 1920 kommt es zur Wende: Das Kommando in Münster zieht alle Truppen aus dem Ruhrgebiet ab aus Angst vor Umzingelung und Abtrennung durch die erfolgreiche Rote Ruhrarmee.
# Kampfzone Lippe und Wesel
L. Glettenberg hatte im Ersten Weltkrieg gedient und fand sich 1919 in Wesel ein, wo aus mehreren Freikorps das Reichswehr-Infantrieregiment Nr. 62 gebildet wurde, das unter der Führung von General von Watter stand. Das Regiment hatte den Auftrag, die Ruhe und Ordnung in den umliegenden Städten aufrecht zu erhalten. In diesem Zusammenhang war Glettenberg auch häufig in Dinslaken und in Lohberg. Seine Erinnerungen an die Zeit schrieb er später auf.
Ab Seite 11 schildert er die Ereignisse in den letzten Märztagen: „Am 23. März waren wir in Wesel angekommen. Der 23. und 24. März verging mit Kämpfen. - Als Kuriosum sei erwähnt, daß am 24. März das Abschnittskommando (Generalmajor von Kabisch) vom Führer der ‚Roten Armee‘ telefonisch aufgefordert wurde, Wesel bis 2 Uhr nachmittgas zu räumen und zu diesem Zeitpunkt die weiße Flagge zu hissen, und daß bei Ablehnung dieser Forderung Wesel mit schwerer Artillerie beschossen würde. Tatsächlich ist dann Wesel an dem Tage und auch den nachfolgenden Tagen mit Artillerie beschossen worden. So zählte ich in der Nacht vom 26. zum 27. März - während ich vorn am ‚Feinde‘ auf der Lippebrücke lag - 72 Schuß, die nach Wesel gingen. Gott sei Dank waren es bis auf zwei oder drei Blindgänger. - Die Rotgardisten versuchten in diesen Tagen immer wieder, über die Lippebrücke zu kommen, wurden aber durch wohlgezieltes Maschinengewehrfeuer und durch vorzüglich geleitetes Artilleriefeuer … daran gehindert. Immer wieder sahen wir, wie sie sich hinter dem Lippeschlößchen zum Angriff bereitstellten. Sofort aber bekamen sie soviel Zunder, daß ihnen das Herz in die Hose rutschte. Wie das Lippeschlößchen nach den Kämpfen aussah! Beim Regiment war der Plan gefasst worden, am 25. März mit einem Panzerzuge -gewöhnliche Waggons mit Holzbohlen beladen!- einen Vorstoß über die Lippebrücke zu unternehmen.“ Er beschreibt diesen Vorstoß sehr detailliert und begeistert und endet damit: „Eine Kleinausgabe des Sturmes vom 16. September 1914 auf das Chateau Brimont bei Reims.“
Wenig später schildert er die Ermordung eines Leutnants Weber bei Friedrichsfeld am 23. März durch Rotgardisten, angeblich mit den Worten des Täters bei dessen gerichtlicher Vernehmung: „Ich trat am 22. März freiwillig in die Rote Armee ein und ging noch am selben Tag nach Friedrichsfeld zur Front. In einem Keller des Lippeschlößchens entdeckte ich am Morgen des 23. März den dort eingesperrten Leutnant Weber von der Reichswehr. Dieser hatte einen Karabiner bei sich, ergab sich mir aber sofort. Ich schleppte ihn nach oben, wo sofort vier Mann mit Gewehrkolben auf ihn einschlugen. Darauf ordnete ein Zugführer die Erschießung des Leutnants an. Zu diesem Zweck schwärmten 20 Mann aus und schossen auf den Leutnant. Ich schoß auch, Bei meinem ersten Schuß brauch der Leutnant zusammen. Auf den am Boden liegenden gab ich dann noch zwei weitere Schüsse ab. Wir stellten fest, daß der Leutnant noch lebte, und es wurde beschlossen, ihn liegen zu lassen, damit er noch möglichst lange leiden und Schmerzen haben sollte. Der Leutnant hatte unter anderem einen schweren Bauchschuß. Am Nachmittag kam dann ein Düsseldorfer Kampanieführer und schnitt dem Leutnant mit einem Messer die Kehle durch. Ich habe dann den Leutnant beraubt und ihm seine Brieftasche, Rasierzeug und Uhr abgenommen.“
Im Kampf gegen die rote Armee, Leutnant Glettenberg (Regiment 62), StA Duisburg Bestand 51/69; den kompletten Bericht von Glettenberg können Sie auf der Seite des Stadtarchivs Duisburg unter folgendem Link aufrufen:
http://dfg-viewer.de
Die Kämpfe um Wesel beschreibt auch Major a.D. Siegfried Schulz (1870-1942) in einem Kapitel seiner Broschüre „Ein Freikorps im Industrie-Gebiet“, im Selbstverlag erschienen, vermutlich 1921 oder 1922. Die Kapitel „Der Kapp-Putsch und die Märzunruhen“ sowie „Die Kämpfe um Wesel“ umfassen 16 Seiten. Schulz stellt dar, dass den Aufständischen bei den Kämpfen um Wesel eine entscheidende Niederlage zugefügt worden sei. „Die Gegenoffensive habe am Gründonnerstag 1920 (1. April) begonnen, Karfreitag sei ein ‚Schmerzenstag für die Roten gewesen‘, Ostersamstag sei Hamborn eingenommen worden (zitiert nach Rei-ninghaus, 2020, S. 49).“ Sein Text sei eher eine Quelle für die Mentalität der Freikorpsführer, als für den realen Ablauf der Ereignisse zu nutzen, so schreibt Reininghaus in der quellenkritischen Untersuchung. Erhard Lucas (Märzrevolution 1920) betont, dass das „Erinnerungsbändchen, die massiv faschistische Idee des Autors offenbart.“
Im Freikorps Schulz fielen vom 20. März bis zum 1. April sieben Männer aus Walsum, Eppinghoven, Voerde und Friedrichsfeld (nach Reininghaus, 2020, S. 421), außerdem zehn Männer aus Hamborn, zwei aus Marxloh. Insgesamt werden in einem Erinnerungsbuch 41 Gefallenen aus dem Freikorps Schulz in den Tagen der Märzunruhen genannt.
#Wer hat die Reichswehr gerufen?
Colm führt Folgendes zur Rückkehr der Reichswehr und zur Befreiung des Ruhrgebietes aus: „Es ist heute [Ende 1920 /1921] nicht zu entscheiden, auf welche Gründe der Einmarsch der Reichswehr an den einzelnen Punkten zurückzuführen ist: ob auf die immer dringender werdenden Hilferufe von den verschiedensten Stellen, aus Kreisen der Arbeiterschaft, ob auf ausdrücklichen Befehl der Regierung oder ihrer Vertreter, oder ob auf eigene Initiative des Wehrkreiskommandos oder untergeordneter Stellen.“ Darunter fügt er folgende Erklärung aus Berlin ein: „Wenn behauptet wird, dass die Regierung mit dem Einmarsch die Vereinbarungen durchbrochen habe, so ist das eine glatte Unwahrheit. Vom 31. März bis 3. April haben die Truppen auf der ganzen Linie jede Vorwärtsbewegung eingestellt. Wo an einzelnen Stellen wie bei Pelkum, Recklinghausen und Dinslaken Truppen kämpfend vorgestoßen sind, da haben Angriffe der bewaffneten Arbeitermassen den Anlass dazu gegeben. Jetzt kann nur noch ein entschiedenes Zugreifen helfen. Die Erklärung ist gezeichnet von Reichswehrminister Geßler, dem obersten Chef der Heeresleitung.
Quelle: Colm /1921, Seite 135
Abb. links: Geschütz der Roten Armee am Rathaus Dinslaken (StA Dinslaken, Slg, Dittgen)
Abb. Rechts: Gefangene Kommunisten werden abgeführt.
Abb.: Zwei Passierscheine für ein und dieselbe Person - ausgestellt einmal vom roten Vollzugsrat und einmal vom weißen (Reichswehr) Ortskommandanten. (StA Dinslaken, Slg. Dittgen)
Die Dinslakener Bevölkerung litt sehr unter den Angriffen sowohl von der Reichswehr, als auch von der roten Armee. Am 1. April richtete sich Bürgermeister Dr. Saelmans mit folgendem Telegramm an den Regierungspräsidenten in Düsseldorf: „… bitte ich sie nochmals dringend zu veranlassen dass beschiessung der Stadt Dinslaken eingestellt wird + Zahl der toten der zivilbevölkerung kann nicht angegeben werden + sachschäden werden auf mindesten 7 millionen mark geschätzt + diese sind durch keinerlei militärmaßnahmen gerechtfertigt da stadt weit hinter der front liegt“. (Quelle: LAV NRW Düsseldorf, Reg. Düsseldorf 15976, Bl. 404 u. 405, zitiert nach Michael Dahlmanns, 1988, S.73)
#Schützengräben in Voerde - Zusammenbrechende rote Front?
Zwischen Voerde und Möllen hatten die Arbeitergruppen Schützengräben ausgehoben und eine neue Verteidigungslinie aufgebaut. Aber die Reichswehr eroberte bald das rückwärtige Gebiet und nahm die Grabenstellung unter Feuer: „Ein Druck auf den Abzugsknopf, verbunden mit einem langsamen Hin- und Herschwenken der Todesmaschine genügte, um Hunderte den Kriegertod sterben zu lassen“, hieß es in einem Zeitungsbericht der lokalen Presse. Es wurden mehr als hundert Arbeiter bei Voerde getötet. Scholten, H.: Der Bruderkrieg in Eppinghoven (Zeitungsartikel, Sammlung Mölleken)
Die Hoffnung auf Ruhe zeigt sich bald als
eine trügerische. In der Frühe des nächsten Tages, Palmsonntag, hören
wir wieder das Geratter der Maschinengewehre. Der Gottesdienst
muss abgesagt werden Gegen Nachmittag wird der Kampf heftiger
Granaten fahren über unsere Köpfe hin und herüber.
In den Donner der Kanonen mischt sich das Krachen der Minenexplosionen
Gewehrkugeln pfeifen vorüber. …
#Die Ereignisse in Hünxe im Spiegel des Tagebuchs von Max Wetzlar, Bürgermeister von Hünxe
Nach den Aufzeichnungen von Max Wetzlar begann der „rote Terror“ am 23. und 24. März in Schermbeck und Peddenberg. Mehr als 10.000 Soldaten waren in der Umgebung untergebracht und verwüsteten die ganze Region. Die Verpflegung der Soldaten wurde erzwungen, die Lebensmittellager der Gemeinde leergeräumt. Die Büros des Rathauses - damals auch das Wohnhaus von Bürgermeister Wetzlar - von der Verwaltung der Roten Armee eingenommen. Im Keller errichtete die Rote Armee ein Munitionslager.
Gerade das Munitionslager im Keller des eigenen Wohnhauses machte Bürgermeister Wetzlar große Angst, das Rathaus würde ihm mal um die Ohren fliegen. So entschied er sich für einen Umzug in die Dorfschule. Die andauernden Maschinengewehrfeuer führten aber auch dort zu sehr unruhigen Nächten.
Die meisten Kämpfe fanden jenseits der Lippe auf Weseler Gebiet statt. Am 27. März wurde die Rote Armee dann bei Krudenberg über die Lippe zurückgedrängt und verlor im Gefecht 63 Soldaten. Das Geschützfeuer beider Seiten führte zu erheblichem Sachschaden an Häusern und an der Kirche von Hünxe.
Als man am nächsten Morgen an die frische Luft trat „sahen wir zu unserer großen Freude einen Kommandanten der Reichswehr im Dorf. Wir stürzten auf die Straßen um die Retter zu begrüßen.“
Am 28., 29. und 30. März beschoss die Reichswehr Lohberg und konnte die Rote Armee weiter zurückdrängen. Die Kämpfe auf Hünxer Gemeindegebiet waren nur kurz und so konnte Bürgermeister Wetzlar am Ende ein zum Glück fast positives Resümee ziehen.
Voller Erleichterung notierte er, dass die Gemeinde ohne Personenschaden davongekommen sein. Der Sachschaden belaufe sich auf ca. 50.000 Reichsmark, außerdem fehle die Schreibmaschine und einige Stempel.
#1./ 2. April - Befehl an die Reichswehr: Dinslaken ist bis 12 Uhr einzunehmen
Am 31. März greift die Rote Ruhrarmee zwischen Friedrichsfeld und Wesel die nunmehr in Wesel konzentrierte Reichswehr erneut an. Die Rotgardisten erleiden schwere Verluste
Am 1./ 2. April lautet der Befehl an die Reichswehr: Dinslaken ist bis 12 Uhr einzunehmen. Das Bataillon des Regiments 62 und die Kompanie des Lt. Glettenberg werden als Stoßtrupp eingeteilt. Nach der Befehlsausgabe am 1. April, 7.30 Uhr ist Abmarsch von Duisburg nach Eppinghoven:
„... Der Rest der Kompagnie, der nicht zu den Stoßtrupps oder zu den Bedienungsmannschaften der Maschinengewehre bzw. des Minenwerfers gehörten, bildete die Reserve. Das ganz war aus einem Guß, beseelt von einem solchen Draufgängertum, daß Oberleutnant Rübel, im Verlauf des Vormittags voller Bewunderung sagte: ‚So etwas habe ich ja kaum während des Krieges gesehen!‘"
Lt. Glettenberg war Mitglied im Freikorps Wesel, seine Kompagnie sollte für „Ruhe und Ordnung“ in den Städten Dinslaken, Sterkrade, Oberhausen, Hamborn und Duisburg sorgen. Teile seiner Kompagnie waren im Januar 1920 wiederholt in Lohberg, sie wurde später nach Hamborn verlegt. Der gesamten Text von Glettenberg (L. Glettenberg, Im Kampf gegen die Rote Armee) ist digital nachzulesen unter Stadtarchiv Duisburg Best. 51/69
"Nicht schießen, wir haben doch nichts getan!"
Auszug aus "Der andere Blick - FrauenLeben in Dinslaken"
#Die Reichswehr im Dinslakener Stadtbereich am 2. April
Abb.: „Rote“ Sanitäterinnen und Sanitäter (StA Dinslaken, Sammlung Dittgen)
Die Roten Kämpfer werden von der Reichswehr immer weiter zurückgedrängt. Bis zum 2. April müssen sie bis zur Linie Walsum-Holten-Schmachtendorf-Königshardt zurückweichen.
Bis Mittag liegt Dinslaken noch unter schwerem Beschuss, danach wird die Stadt durch die Reichswehr eingenommen, befreit - wie es die Presse nennt. Die Roten beklagen allein an dem Tag etwa 200 Tote.
Jeder Sympathisant wurde von der Reichswehr als Angehöriger der roten Armee gewertet und verfolgt. Dabei kam es zu willkürlichen und furchtbaren Grausamkeiten, am 2. April zu Lynchmorden. Josef Ernst, Gewerkschafter, USPD-Mitglied und später Reichstagsabgeordneter, beschreibt in einer 1921 erschienen Broschüre „Kapptage im Ruhrgebiet. Nach Tagebuchblättern und Akten“ neben vielen anderen Grausamkeiten der Reichswehr eine willkürliche Ermordung in Lohberg: „Ganze Familien wurden vernichtet. In Lohberg wurde der Kommunist Schoen [seiner wird in der ersten Stadtratssitzung als Mitglied des Rates durch Bürgermeister Saelmans gedacht, Anm. der Verfasserin], sein Sohn und Schwiegersohn nebst Frau erschossen. Schoen hatte man zur Vernehmung nach Dinslaken gebracht. An den Kämpfen hatte er sich nicht beteiligt. Er war während dieser Zeit als Fuhrmann beschäftigt. Der Sohn war bei der Polizeitruppe und hatte die Zeche Lohberg bewacht. Trotzdem wurde diese Familie erschossen.“ (zitiert nach: Reininghaus, Der Arbeiteraufstand im Ruhrgebiet 1920, S. 186)
Frauen wurden von der Reichswehr oftmals als Sanitäterinnen oder zum Kartoffelschälen verpflichtet. Bei dieser Tätigkeit wurden Anfang April 1920 in Dinslaken von der Reichswehr sieben Frauen am Rutenwall ermordet, trotz Protest einzelner Bürger gegenüber dem kommandierenden Offizier. Zum Thema „Rot-Kreuz-Schwestern“ siehe auch den Bericht in der Schulchronik Eppinghoven.
Literatur-Tipp
Pauline Feldhoff, „Nicht schießen, wir haben doch nichts getan." in: Der andere Blick - FrauenLeben in Dinslaken, S. 123
Anfang April 1920 - Blick zurück im Zorn
#„ …. So also sieht das Ende vom Erdenparadies aus, das jene Apostel der Anarchie bringen wollen!“ (Ruhrorter Volkszeitung, 7.4.1920)
Dinslaken ist mit seinen zwei Krankenhäusern nicht nur Kampfschauplatz, sondern auch Etappe der Roten Ruhrarmee. Verwundete werden von der Front nach Dinslaken transportiert, häufig mit requirierten Transportmitteln.
Gut Bärenkamp wird geplündert und zerstört, Stallungen in Brand gesetzt. … „Der Vollzugsrat versuchte einer solchen Entwicklungen entgegen zu wirken, indem er Aufrufe wiederholt bekannt gab, dass eigenmächtiges Requirieren auf das Strengste verboten sei. …“ (Dahlmanns, S. 59 ff)
Die Bevölkerung leidet weiter unter Hunger. Die Lebensmittel sind vorrangig für die Truppen (Reichswehr sowie Rote Ruhrarmee) aufzubringen. Es sind zivile Tote zu beklagen, unter ihnen Bergwerksdirektor Sebold. Die Industrie liegt lahm, es wird geraubt und geplündert. An und in Gebäuden entstehen große Schäden.
Mangel an Nahrung und Munition und eine wachsende Zermürbung durch den Stellungskrieg an der Lippe wirken sich auf die Moral der Kämpfenden der Roten Ruhrarmee aus. Eine beginnende Zersetzung wird sichtbar. Später kommt es zu Desertationen. Die ursprünglichen Kampfgemeinschaften verändern sich in ihrer Zusammensetzung sowie im Zusammenhalt. Arbeiter wenden sich ab und kehren nach Hause zurück.
Die unruhigen Zeiten, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Friedensvertrag von Versailles und dem Kapp-Lüttwitz-Putsch begonnen haben, enden vorläufig für Dinslaken und das Ruhrgebiet am 2. April 1920 mit dem Einmarsch der Reichswehr, die von der Bevölkerung als Befreier begrüßt wird.
Der Zivilbevölkerung verblieben Hunger, zerstörte Wohnungen und Häuser, Verluste von Menschenleben sowie weiterhin andauernde Not. Die Toten werden in Hünxe, Voerde und Dinslaken in Massengräbern bestattet. Manche sprechen davon, dass der „Spuk des Bolschewismus vorbei sei“. Doch ist der politische Konflikt damit nicht gelöst.
Der Priester Otto Buchholz wohnte zeitweilig in der Lohberger Kolonie. Er schreibt in Erinnerung an seine Lohberger Zeit: Ich selbst wohnte in der Stube eines Bergmanns und - oft körperlich fühl-bar - ist mir deutlich geworden, was Proletarier sein heißt … heute hoffen, morgen Handgranate werfen und übermorgen seine Hoffnungen begraben. (Zitat Erhard Lucas, Arbeiterradikalismus)
Der Lohberger evangelische Pfarrer Schmidt schrieb 1926
"... Lohberg, das nunmehr vollkommen im Bereich der roten Armee lag, wurde unaufhörlich von roten Truppen durchzogen; acht Tage lang lag unser Ort unter schwerem Artilleriefeuer, im Ledigenheim war ein Lazarett eingerichtet, Haussuchungen und Requirierungen fanden allenthalben statt, die Bevölkerung verbrachte die meiste Zeit in den Kellern. Im Weltkriege hatten unsere tapferen Truppen den Krieg unseren Grenzen ferngehalten, und nun tobte er im eigenen Lande zwischen den Angehörigen desselben Volkes. Viel Blut ist an der Lippe geflossen, um deren Übergang bei Hünxe auf beiden Seiten hart gekämpft wurde. Am 2. April war Karfreitag, an diesem Tage gelang es den Regierungstruppen die Lippe zu überschreiten und die rote Armee unter schwersten Kämpfen zurückzudrängen. Erleichtert atmete man auf. Unsere Kolonie, als Hochburg des Kommunismus, hatte an diesen Kämpfen großen Anteil genommen und sind dementsprechend ihre Verluste schwer gewesen, spricht man doch von über 80 Toten und Vermißten. Auch die Beschießung des Ortes hatte Opfer gefordert. So war in einem Hause der Grabenstraße ein Brautpaar durch eine einschlagende Granate getötet worden. Erwähnungswert ist es, daß man beim Rückzug die Zeche in die Luft sprengen wollte. Eine große Menge Dynamit, bei deren Explosion auch Lohberg mit in die Luft geflogen wäre, war im Maschinenhaus der Zeche zusammengebracht, nur der schnelle Vormarsch der Regierungstruppen und das mannhafte Eingreifen einiger Beamten verhinderte das größte Unglück. Überhaupt hatte eine ganze Anzahl Zechenbeamten wegen ihrer treuen Pflichterfüllung unsagbar unter dem Terror der Rotgardisten zu leiden gehabt, was ihnen nicht von ihren Vorgesetzten vergessen werden darf. Nach Einnahme Lohbergs durch die Regierungstruppen waren die Haupträdelsführer für eine lange Zeit aus Lohberg verschwunden, sodaß allmählich wieder Ruhe einkehrte. Es läßt sich nicht bestreiten, daß einige der Aufständischen mit Idealismus kämpften, sehr viele dagegen betrachteten den Kampf nur als eine Gelegenheit, um sich zu bereichern. In der letzten Woche vor der Entscheidung waren kaum noch Lebensmittel zu haben. ..."
Sammlung Dittgen, SP 68-109
In Dinslaken findet die erste Stadtratssitzung am 27. April 1920 statt. Dr. Saelmans ist wieder als Bürgermeister im Amt. Unter Punkt 2 widmet er dem Stadtverordneten Schön Anerkennung, der bei den Unruhen Anfang April den Tod gefunden hat. Unter Punkt 13 geht es um die Ergreifung von Hilfsmaßnahmen aus Anlass der letzten Unruhen. Die Unruhen und Kämpfe werden mündlich geschildert und die Schäden aufgezählt - sind also im Protokoll nicht nachzulesen. Die bereits durchgeführten Maßnahmen werden von der Versammlung gebilligt. Zur Beseitigung der Bau- und Mobiliarschäden sowie für geschädigte Gewerbetreibende werden rund 250 000 Mark bereitgestellt. Für die Festsetzung der einzelnen Entschädigungssummen werden Kommissionen gebildet. (Quelle: StA Dinslaken, Bestand I-21)
Allerdings gibt es eine Zeugenaussage von Bürgermeister Dr. Saelmans vom 14. April 1920 in der er detailliert sowohl die grausame Ermordung des Zechendirektors beschreibt, als auch die Erpressung von Streikgeldern und Requisitionen von Dinslakener Unternehmen und Persönlichkeiten.
Am 12. April lädt Landrat Moll die angehörigen Gemeinden zur Kreistagssitzung im Mai ein. Auf der Tagesordnung erinnert nichts an die vergangenen Ereignisse. Nach der Sitzung liest Bürgermeister Giesen aus Voerde eine Entschließung vor, in der die Gemeinden dringend eine Entschädigung für die durch die Roten verursachten Schäden fordern.
#Resümee. Berichte in der Lokalpresse prangern die kommunistische Herrschaft an und begrüßen die Befreiung

Niederrheinische Nachrichten, 4. April 1920

Ruhrorter Volkszeitung, 7. April 1920

Ruhrorter Volkszeitung, 7. April 1920

Niederrheinische Nachrichten, 8. April 1920, Kreis Dinslaken.

Niederrheinische Nachrichten, 8. April 1920, Kreis Dinslaken.

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Kreis Dinslaken. Die Befreiung Dinslakens erfolgte bereits am Freitag. Hinter Dinslaken hatten sich die Rotgardisten verschanzt und konnten erst nach längerem Kampf zum Rückzug gezwungen werden. Die Reichswehrtruppen gingen von Voerde aus vor und drangen schließlich in die Stadt ein. Ihnen fielen sechs Maschinengewehre, ein Minenwerfer und ein Geschütz in die Hände. Der Gefechtsleiter der roten Armee, Kuba, konnte auf dem Dachboden eines Hauses ermittelt werden. Bürgermeister Dr. Saelmans, der vor etwa 14 Tagen von den Führern der roten Truppen in Schutzhaft genommen worden war, war bereits vor dem Einrücken der Reichswehr freigelassen worden.
Quelle: Niederrheinischen Nachrichten, Anfang April 1920 (StA Dinslaken, Slg. Möllecken SP 28- 289) -
Kreis Dinslaken. 10 Tage unter roter Herrschaft. Nachdem Sonntag, 21. März, Gewehr- und Maschinengewehrkugeln in den Straßen Dinslakens gepfiffen und auch einzelne Schrapnells über der Stadt explodiert waren, spielten die Geschütze der Regierungstruppen und es hatte den Anschein, als ob die Rote Armee auf Hamborn zurückgedrängt werde. Montags morgens hörte man nur mehr fernen Geschützdonner. Da setzte nachmittags der Kampf gegen Lohberg-Hiesfeld ein.
Unter der Beschießung der Regierungstruppen hatte vor allem das dort hinausliegende Bruch zu leiden: während die Minen der Rotgardisten am Eisenbahndamm einschlugen. Gegen 6 Uhr abends verbreitete sich dann mit Windeseile die Nachricht: die Roten sind auf der Weseler Straße durchgebrochen. Tatsächlich war es der roten Kampfleitung gelungen, sämtliche Truppen von der Westfront, die nur durch einen dünnen Schützengraben markiert blieb, fortzuführen in die linke Flanke der weißen Truppen. Beabsichtigt war ein Durchstoß über Möllen zum Rhein, um so die Regierungstruppen einzukesseln. Die Leitung der Truppen hatte zeitig die Absicht erkannt und zu schwach, um die Gegner zurückzudrängen, alle Vorbereitungen zum Rückmarsch nach Friedrichsfeld-Wesel getroffen. 1 Uhr in der Nacht von Montag auf Dienstag zogen die letzten Regierungstruppen von Dinslaken ab und es folgten nun für die Bürger lange bange Stunden der Erwartung kommender Ereignisse. Und die rote Herrschaft kam. Die tollsten Gerüchte von Verhaftungen und Plünderungen durchschwirrten die Stadt, bestätigten sich aber glücklicherweise nicht. Wohl wurden eifrige Nachforschungen nach den Dinslakener Zeitfreiwilligen betrieben und nach zurückgebliebenen „Noskes“; auch alle Waffen, d.h. Jagdgewehre - andere Waffen befanden sich nicht in den Händen der Bürger - wurden beschlagnahmt. Und dann begannen die Requisitionen, in Wirklichkeit nichts anderes als verkappte Plünderungen. Die Lebensmittel-, Schuhwaren-, Hut- und Konfektionsgeschäfte mußten besonders daran glauben. - Sämtliche Fahrräder wurden eine Beute der Roten, die Fuhrwerk- und Pferdebesitzer mußten Frondienst tun oder auch ihre Wagen und Pferde gegen Requisitionsschein abgeben. In den ersten Tagen sah man viel Gesindel in der Stadt umherlaufen, das nicht zum Kampf gewillt war, sondern nur die Gelegenheit wahrnahm im Trüben zu fischen und die hohen Tagegelder zu schlucken. Die rote Leitung sah sich deshalb bald zu schärferer Kontrolle veranlasst und schob diese auch für sie schädlichen Elemente nach Möglichkeit ab.
Aber auch ihren Truppen gegenüber waren die Führer machtlos. Jeder tat und ließ, was ihm beliebte. Man schaue sich nur die Greuel der Verwüstung an, die diese Kämpfer für Freiheit und Volksglück in ihren Massenquartieren zurückgelassen haben. In der Realschule und in den belegten Volksschulen ist alles beschädigt, geplündert und beschmutzt. Was Geldwert hatte, wurde mitgenommen, alles übrige vernichtet. Wenn mit einigen Leuten der Roten Garde auch vernünftiger zu reden war, so zeigt die Masse doch nur Raubtierinstinkte. Die umliegenden Bauernhöfe wurden rein ausgeplündert, was sie nicht gutmütig gaben, wurde mit Gewalt genommen.
Und wie gestaltet sich nun die Verwaltung? Den Bürgermeister Dr. Saelmanns und den Landrat Dr. Moll hatte man gleich für abgesetzt erklärt und ersteren in Schutzhaft genommen. Ein Vollzugsrat, dem nur Dinslakener angehörten, leitete die Geschäfte und zwar muss der Gerechtigkeit halber zugestanden werden, daß dieser Vollzugsrat das gemäßigte Element ausmachte und manchen Bürger und Beamten der militärischen Gewalt gegenüber vor schlimmeren Ausschreitungen schützte. Die Polizeibeamten, besonders die der Kriminalabteilung angehörten, waren zum Teil schweren Mißhandlungen ausgesetzt, andere konnten sich den Verfolgern nur durch eine abenteuerliche Flucht über die Dächer entziehen. Die Polizeiakten wurden durcheinander geworfen und verschleppt.; die Kriminalakten wurden auf offener Straße verbrannt. Auch hierin zeigt sich die Geistesart der Umstürzler; sie haben es nötig, Verbrecher zu schützen und die Nachforschungen nach solchen zu erschweren. Und die Leiden der Bevölkerung nahmen ihren Fortgang. Von aller Welt abgeschnitten, wusste niemand, was die nächste Zukunft bringen würde. Umso verwirrendere Gerüchte machten natürlich die Runde. Aengstliche vergruben ihre Wertgegenstände und machten sich fluchtbereit, andere versteckten Lebensmittel als eiserne Portionen für die kommende Not. Wieder andere lebten in den Tag hinein im Gedanken: „Nach uns die Sintflut!“
Das Schreckgespenst des Hungers nahm von Tag zu Tag deutlichere Gestalten an. Waren die Tage drückend und schwer, so vermehrte das Gefühl der Beklemmung die bangen Nächte. Manche Familie, besonders soweit ihre Wohnung an gefährdeter Stelle lag, durchwachte Nächte lang in den Kellerräumen. Der häufig in später Abendstunde einsetzende Kanonendonner und Gefechtslärm ließ ja für die Nacht das schlimmste vermuten. Jeden Abend hoffte man, der kommende Morgen werde die Befreiung bringen und jeder Morgen brachte dasselbe trübe Bild.
Dabei konnte der aufmerksame Beobachter doch mehr und mehr die innere Zersetzung der Roten Armee deutlich erblicken. Immer häufige zogen sich Trupps kampfmüde gegen den Willen der Führer nach ihren Heimatorten zurück; immer deutlicher traten die Zänkereien in der örtlichen Leitung zutage; immer zahlreicher wurden die Verwundetentransporte von der Kampffront und immer geringer der frische Nachzug. Mehrfach sah man, wenn der Ruf: Noske kommt! ertönte, die Helden scharenweise flüchten. Ueberall sah man dann rote Binden und Schleifen und Waffen liegen, und nur ganz allmählich legte sich der Schrecken wieder. Es war klar, wenn eine disziplinierte, einigermaßen ausreichende Truppe vorstieß, dann mußte die ganze Rote Garde wie Spreu verfliegen. Und so kam es denn auch.
Nach einer Artillerievorbereitung rückten die Reichstruppen am Karfreitag morgen in die Stadt Dinslaken ein, begrüßt von der befreit aufatmenden Bevölkerung. Und nun das Resultat: ein Sachschaden, der sich wohl auf zehn Millionen beziffert allein für Dinslaken, drei Massengräber, in denen etwa 1505*Rotgardisten, darunter vielleicht manches Opfer der Verführung, den letzten Schlaf schlafen und außerdem eine Reihe Gräber, in denen friedliche Bürger ruhen, die umherirrenden Kugeln und Granaten von Freund und Feind zur Beute fielen. – So also sieht das Ende vom Erdenparadies aus, das jene Apostel der Anarchie bringen wollen!
Quelle: Niederrheinischen Nachrichten, Anfang April 1920 (StA Dinslaken, Slg. Möllecken SP 28- 289) *Lediglich sehr undeutliche Lesung möglich. -
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Dinslaken unter kommunistischer Herrschaft. Erleichtert atmete die Bevölkerung unserer Stadt wieder auf, nachdem sie am Karfreitag von der bedrückenden Diktatur einer Minderheit befreit worden war. Über die Vorgänge geht uns noch folgender Bericht zu: Gewehrschüsse und Maschinengewehrfeuer kündeten am 18. März morgens den Rückzug der Reichswehrtruppen und das Nahen der Roten Armee an. Zwischen Walsum und Dinslaken bezog die Reichswehr eine feste Stellung, welche sich am Bahndamm der Gewerkschaftsbahn entlang bis Lohberg erstreckte. Im Laufe des Tages rückten bereits die roten Truppen heran, welche ständig Verstärkung erhielten und schon am Sonntag kam es zu heftigen Kämpfen, bei welchen die rote Garde schwere Verluste erlitt. Die Reichswehr räumte in der Nacht zum Dienstag planmäßig ihre Stellungen, um sich nach Wesel zurückzuziehen. Dinslaken wurde von Rotgardisten besetzt. Es bildete sich ein Vollzugsrat, welcher mit dem Stadtkommandanten Ficks die öffentliche Gewalt übernahm. Bürgermeister Saelmans und verschiedene städtische Beamte nahm man in Schutzhaft, die Polizei wurde entlassen. Schwere Tage brachen nun für die Bürgerschaft an. Tage lang war die Wasserleitung abgesperrt, der Bahn- und Postverkehr ruhte. Dinslaken, als die der Front nächstliegende Stadt , hatte ganz besonders unter den unzähligen Beschlagnahmungen zu leiden. Die städtischen Lebensmittel verfielen ebenfalls der Beschlagnahme durch die Rote Armee. Fleisch konnte in den 14 Tagen der Gewaltherrschaft nicht an die Bevölkerung abgegeben werden. Tagelang blieb die Milchzufuhr aus. Am meisten mitgenommen wurde durch die Beschießung der Stadtteil Hiesfeld. In der Rolandstraße ist fast kein einziges Haus von Volltreffern der Geschütze und Minenwerfern verschont geblieben. Auch die neue Siedlung im Bruch ist schwer mitgenommen. Wie bisher festgestellt wurde, beträgt der Sachschaden an den Gebäuden in der Stadt über sieben Millionen Mark. Leider sind auch einige unschuldige Menschenleben zu beklagen und zwar vier Tote und mehrere Verletzte. Vollständig ausgeplündert haben die Rotgardisten das Lager in Friedrichsfeld. Was nicht mitgenommen werden konnte, wurde zerstört. Der Karfreitag brachte die Entscheidung. Um 7 Uhr morgens begann der Vormarsch der Reichswehrtruppen von Wesel und Hünxe aus. Die Truppen fanden nur wenig Widerstand. Mehr als 10 Maschinengewehre, ein Geschütz, mehrere Minenwerfer und viele Gewehre wurden erbeutet. Fast kampflos zogen die Reichswehrtruppen gegen 10 Uhr in die Stadt ein. Eine Abteilung der grünen Sicherheitswehr übernahm den Sicherheitsdienst in der Stadt und durchsuchte die Häuser nach Waffen. Verschiedene Verhaftungen wurden vorgenom-men.
Quelle: Niederrheinischen Nachrichten, Anfang April 1920 (StA Dinslaken, Slg. Möllecken SP 28- 289) -
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Dinslaken. Die Kampfschäden. Ein undatiert überlieferter Zeitungsbericht relativiert die „Kampfschäden“, nach diesem Bericht wurden sie „übertrieben dargestellt“. Weiter heißt es:
„… Weder der Wasserturm noch ganze Häuserzeilen sind vom Erdboden verschwunden, wie es ursprünglich hieß. Sowohl der Turm, wie die Häuserzeilen stehen noch. Immerhin sind einige zum Teil erhebliche Gebäudeschäden zu verzeichnen, so am Evangelischen Krankenhaus, am Haus des Gutsbesitzers Maß, am Viehmarkt (das Dach ist durch einen Volltreffer abgedeckt), am Emtingschen Haus vor den drei Kreuzen und an einigen anderen Gebäuden außerhalb der Stadt …Weit erheblichere Schäden wurden an Hiesfelder Häusern, u.a. der Ziegelei sowie an Lohberger Koloniehäusern durch Artillerietreffer angerichtet. Lieder sind dabei auch mehrere unbeteiligte Zivilpersonen, darunter einige Frauen durch Zufallstreffer getötet worden. Das Thyssensche Walzwerk zu Dinslaken hat ebenfalls mehrere Volltreffer erhalten, sodaß der Betrieb teilweise gestört war. Bürgermeister Saelmans ist vom Amt einstweilen enthoben worden.“
Der Lohberger evangelische Pfarrer Schmidt schrieb 1926:
... Unsere Kolonie, als Hochburg des Kommunismus, hatte an diesen Kämpfen großen Anteil genommen und sind dementsprechend ihre Verluste schwer gewesen, spricht man doch von über 80 Toten und Vermißten. Auch die Beschießung des Ortes hatte Opfer gefordert. So war in einem hause der Grabenstraße ein Brautpaar durch eine einschlagende Granate getötet worden. Erwähnenswert ist es, daß man beim Rückzug die Zeche in die Luft sprengen wollte. Eine große Menge Dynamit, bei deren Explosion auch Lohberg mit in die Luft geflogen wäre, war im Maschinenhaus der Zeche zusammengebracht, nur der schnelle Vormarsch der Regierungstruppen und das mannhafte Eingreifen einiger Beamten verhinderte das größte Unglück. Überhaupt hatte eine ganze Anzahl Zechenbeamten wegen ihrer treuen Pflichterfüllung unsagbar unter dem Terror der Rotgardisten zu leiden gehabt, was ihnen nicht von ihren Vorgesetzten vergessen werden darf. Nach Einnahme Lohbergs durch die Regierungstruppen waren die Haupträdelsführer für eine lange Zeit aus Lohberg verschwunden, sodaß allmählich wieder Ruhe einkehrte. Es läßt sich nicht bestreiten, daß einige der Aufständischen mit Idealismus kämpften, sehr viele dagegen betrachteten den Kampf nur als eine Gelegenheit, um sich zu bereichern ... Sammlung Dittgen, SP 68-109
#Ein Dinslakener Zeitzeuge berichtetet 50 Jahre später in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung
Quelle: Stadtarchiv Dinslaken SP 68-410
Rudolf Rode, zum Zeitpunkt des Berichts 87 Jahre alt, bezeichnet sich als Dinslakener Stadtkommandant der Roten Ruhrarmee. In einem Interview mit einem Reporter der WAZ - nicht mit Namen, sondern mit „ö“ gezeichnet – erinnert Rode an militärische Übungen auf dem Johannesplatz in Lohberg, an Dr. Gäthe, der den Mord an acht Frauen am Rutenwall verhindern wollte, sowie an Dr. Lüttgen, der Blutvergießen im Krankenhaus verhinderte.
Ö stellt vorweg fest, dass zeitgenössische Chroniken die Ereignisse „recht konservativ“ beschreiben. Der Bericht ist in der Sammlung Dittgen auf den 1. März 1969 datiert.
Epilog
Das Leid der Bevölkerung manifestiert sich nicht nur in den erheblichen Sachschäden, sondern ganz besonders in den Verlusten von Angehörigen. Wenn hier auf einzelne Tote und die Umstände der Tötung anonymisiert eingegangen wird, ist dies gedacht als Teil des Gedenkens an die Schrecken dieser Zeit.
Die meisten in diesem Bürgerkrieg Gefallenen liegen in Massengräbern und sind nicht namentlich bekannt. Es sind sowohl Menschen aus der Region, als auch Arbeiter aus dem Ruhrgebiet.
Abb.: Wilhelm Heinen und Ferdinand Siefker gerieten unbeteiligt in die Kämpfe zwischen Rotarmisten und Reichswehr und verloren dabei ihr Leben. (Quelle: StA Dinslaken, Slg. Dittgen)
#„.. Gestorben gelegentlich der Kämpfe zwischen Regierungs- und Arbeitertruppen“
Ehrenmal auf dem Dinslakener Friedhof an der B8
Es wurden 52 Tote erfasst, in deren Sterbeurkunden auf den Zusammenhang hingewiesen wird. Es sind dies amtlich festgestellte Tote im Zeitraum vom 20. März bis zum 27. April 1920 mit unterschiedlichen Fundorten und Todesursachen. Manche Verletzungen führten zum sofortigen Tod, andere wie Bauchschüsse lassen Schmerzen und Leid erahnen, bis der Tod im Krankenhaus festgestellt wurde. Damit sind längst nicht alle Toten erfasst, die meisten Namen konnten nie ermittelt werden. Von den am Rutenwall erschossenen Frauen sind lediglich zwei im Sterberegister Dinslaken erfasst: Hedwig Rabczinski und Elisabeth Hiltenfink.
120 nicht identifizierte Tote wurden bereits im April 1920 auf dem Kommunalfriedhof in Dinslaken beigesetzt, schrieb Pauline Feldhoff im Jahr 2001 im Dinslakener Frauenbuch. Im Grab in Hünxe Bruckhausen am Witte Huus sollen 40 Tote begraben sein.
Unter den Toten waren auch eindeutig erkennbar Zivilisten (Frauen, Männer und Kinder), die z.B. auf offener Straße im Stadtgebiet oder in ihrer Wohnung nahe der Augustastraße erschossen wurden. Die Umstände weisen selten auf einen zu prüfenden Verdacht der Tötung durch die Rote Ruhrarmee hin. Zechendirektor Sebold, der in der Nacht vom 22. /23. März 1920 von linken Arbeitern ermordet wurde, stellt hier eine bekannt gewordene Ausnahme dar. Details wurden später in zwei Gerichtsverfahren festgestellt. Dies ist der einzige Fall einer Ermordung durch streikende, linkspolitische Arbeiter bzw. in Verbindung mit der Roten Ruhr Armee.
Das Denkmal in Hünxe am „Witte Hus“.
Im Mai 1921 wurde in Lohberg ein Gedenkstein an einem Massengrab für 150 Rotarmisten enthüllt (Quelle: Hamborner General Anzeiger vom 13.5.1921), weit über 1000 Gesinnungsgenossen haben dem beigewohnt, wie der Generalanzeiger am 19.5.1921 berichtete. Zahlreiche Kränze wurden niedergelegt, im Anschluss daran fand ein Umzug statt.
Am Haus Heidelust in Voerde an der B8 gelegen bestand jahrelang ein Massengrab der Roten Armee, am 10. Juli 1921 errichten Arbeiter aus der weiteren Umgebung auf dem Friedrichsfelder Friedhof ein Ehrenmall für die Gefallenen. In Götterswickerhamm existierte ein Massengrab der Arbeiter am „Storchennest“, wo am 27. März einige Rotgardisten standrechtlich erschossen wurden. In Hünxe gab es Massengräber an der Krudenburger Fährstelle und am „Weißen Haus“. (Dahlmanns, 1988. S. 81)
Ein weiteres Denkmal, ein fast 3 Meter hoher roter Sandstein, befindet sich auf dem Dinslakener Friedhof an der Bundestraße 8; 1933 wurde die Inschrift „Ehre ihrem Andenken“ abgeschliffen. Weitere 150 Tote wurden 1931 aus den Massengräbern im Lippe-Gebiet zum Friedhof an der B8 in Dinslaken überführt.
Bestattung der Toten auf dem Dinslakener Kommunalfriedhof durch Männer des DRK (StA Dinslaken, Sammlung Dittgen) und das Ehrenmal auf dem Kommunalfriedhof.
Im November 1934 nutzten die Nationalsozialisten und nicht zuletzt General von Watter, die politische Stimmung und lancierten einen großen Bericht in der Nationalzeitung, der die Rolle der Reichswehr im rechtsextremen Sinne darstellt.
Nationalzeitung vom 4.11.1934
1955 und ab 1960 alle 10 Jahre wurde in der öffentlichen Presse an die Ereignisse im Frühjahr 1920 erinnert. Nur langsam wandelte sich die Sichtweise auf die Ereignisse. Bei aller berechtigten Kritik an Ausschreitungen und Brutalitäten sowohl von Arbeitersoldaten als auch von Reichswehrsoldaten, rückt allmählich die Zielsetzung der Arbeiter in den Blickpunkt. Unter folgendem Link finden sich die Darstellungen in der Presse ab 1955.
Mit den hier vorgelegten Originalquellen steht für interessierte Forscher leicht zu recherchierendes Material zur Verfügung, um eigene quellenkritische Forschungen zu betreiben.
Gleichzeitig soll das Andenken aller Toten des Bürgerkriegs von 1920 bewahrt und geehrt werden.